
Die beste Therapie
Die Kneipe ‚Zwiebel‘ ist eine Institution. Der Wirt Norbert Budewig steht seit fast 40 Jahren hinter der Theke – und denkt gar nicht ans Aufhören.
Die Stapenhorststraße. In Höhe von Hausnummer 61: Da macht sie einen Knick. Wer dort entlangspaziert, dem stellt sich das Gebäude ein klein wenig in den Weg. Wer weiter will, muss einen Schritt zur Seite tun. Es gibt aber die andere Möglichkeit: die Schritte abwärts zu lenken, die kleine Treppe hinab und ins Souterrain des Hauses einzutreten. Wo sich die ‚Zwiebel‘ befindet. Wo es ein wenig dunkler wird. Aber sehr einladend. Dort findet sich der gastliche Raum: holzvertäfelt, mit Sitzbänken, Tischen, Nischen – und einer Theke. Hinter der Theke Norbert Budewig. Und das schon seit 39 Jahren.
Auf Außenstehende wirkt die ‚Zwiebel‘ unscheinbar. Bei einem Arminia-Heimspielen allerdings erregt sie einiges an Aufmerksamkeit, wenn sich eine schwarz-weiß-blaue „Rotte“ vor dem Eingang des Lokals bildet. Der erste Gang in die ‚Zwiebel‘ kostet vielleicht ein wenig Überwindung, denn sie wirkt nicht nur wie aus dem letzten Jahrhundert gefallen, sie ist es faktisch auch. Und dann besteht höchste „Gefahr“, dem Charme der Pinte und ihrem Wirt zu erliegen: „Nobbi“ – wie ihn seine Fans nennen.
Mit 77 Lenzen noch hinterm Tresen
Ihm gebührt allein schon seines Alters wegen großer Respekt. Der Regel-Arbeitnehmer würde längst seine Rente genießen, aber Norbert steht noch mit 77 Lenzen hinter dem Tresen, und zwar weitestgehend allein. Noch immer fährt er mit seinem Auto in den Ratio und erledigt die Einkäufe, noch immer schleppt er die Fässer in die Kneipe. Immerhin hat er inzwischen ein paar helfende Hände: Eine Putzkraft, die den Laden in Schuss hält und ein paar Aushilfen für die Stoßzeiten, zum Beispiel wenn Arminia spielt.
Dennoch: 39 Jahre lang Kneipier? Im Alter von 77 Jahren? Das muss Passion sein. „Das hatte sich einfach so ergeben“, sagt er. „Ich wollte schon immer selbständig sein.“ Und als sich die ‚Zwiebel‘ im Jahr 1977 anbot, dachte er einfach: „Das kannste ja mal machen.“ Dabei war ihm das Gastgewerbe nicht gerade in die Wiege gelegt. Er ist ein 1939er Kind, das jüngste von vieren. „Jetzt reicht es aber auch“, hätte sein Vater, ein Volksschullehrer, nach seiner Geburt gesagt, und zu seiner Wehrmachtseinberufung: „Ich weiß ja gar nicht, ob ich zurück komme.“ Er kam zurück – da war Norbert schon sechs Jahre alt – und fortan wohnte er mit seinen Eltern in Schulgebäuden. In Heepen, dann in Brönninghausen.
Er selbst wurde erst kurz vor Kriegsende, am 1. April 1945, eingeschult. Nachdem er Volks- und Handelsschule abgeschlossen hatte, ging er zur Bundeswehr, die 1959 erst drei Jahre alt war. Dafür musste sein Vater für ihn unterschreiben, denn: „Damals war ich ja mit 20 noch nicht volljährig“. Danach folgte die Metall-Ära des Norbert Budewig. Für die inzwischen nicht mehr existierende Firma Rudolph Richter wurde er „Kaufmann für Eisen und Stahl“, als solcher kam er viel in der Region herum.
Der Name ‚Zwiebel‘ stammt von den Vorbesitzern
Von der Vakanz der ‚Zwiebel‘ hatte er 1977 „einfach gehört“, denn er kannte schließlich „die Ecke hier“. Und er wusste, in nur „sechs bis acht Jahren“ hatte die ‚Zwiebel‘ bereits vier Vorgänger erlebt. Sie sei davor sogar einmal ein Gemüseladen und auch eine Heißmangel darin gewesen, bevor sie zur Kneipe wurde. Den Namen ‚Zwiebel‘ hätte ihm das Vorbesitzerpaar Westermann verliehen, „denn es gab damals hier immer Zwiebel- und Gulaschsuppe“.
Gegen die 25 Bewerber, die sich damals ebenfalls für das Lokal interessierten, hat sich „Nobbi“ mit Schlagfertigkeit durchgesetzt. Als er vorstellig wurde, saß zufällig der Verpächter und Eigentümer des Hauses ahnungslos neben Norbert an der Theke. „Ach, dem neuen Inhaber, dem könnte ich was über diesen Laden erzählen“, habe er ihm seinerzeit über dem Bier gesagt. Und Norbert hätte geantwortet: „Erzähl es doch mir, das bin nämlich ich.“ Und so kam es dann auch.
Die erste Zeit als Kneipier war nicht einfach. Damals hat er noch in Schloss Holte gewohnt, da musste er immer hin und her fahren. Die Polizei fing ihn jeden Tag an derselben Stelle zum „Pusten“ ab. Es gab schon damals einen Wohnungsengpass im Westen, aber das Glück half weiter, und so wohnt der ‚Zwiebel‘-Wirt seit 32 Jahren direkt gegenüber. „Dort bin ich jetzt auch schon der älteste und längste Mieter im Haus.“ Die Nachbarschaft zum Lokal war auch nötig, denn in den 1970ern gab es in der ‚Zwiebel‘ noch ein Tagesgeschäft: Die ‚Zwiebel‘ öffnete bereits ab 10 Uhr geöffnet. „Bei den Angestellten und Arbeitern der umliegenden Firmen gab es damals mittags noch Bedarf,“ erzählt Norbert zwinkernd. „Vor allem bei den Bauarbeitern, als die Stapenhorststraße umgebaut wurde“.
Überlebte Stammkunden
Doch die Zeiten ändern sich. Mittagspausen sind kürzer; wenn es sie überhaupt noch gibt. Bier gilt dabei nicht mehr als das salonfähige Getränk. Mittlerweile gibt es nur noch den Abendbetrieb ab 19 Uhr und „Nobbi“ steht die meiste Zeit allein am Zapfhahn. Er hat den Wandel irgendwie gemeistert. Ob es vielleicht an den Preisen liegt (1,50 Euro für 0,2 Liter Bier)? „Ich hab ja mit 10 Pfennig mehr als alle anderen hier begonnen. Aber ich wollte moderate Preise und hab nicht jede Erhöhung mitgemacht.“ Inzwischen dürfte er – so sagt er – der ausdauerndste Wirt in ganz Bielefeld in ein und demselben Objekt sein. Viele seiner Stammkunden hat er inwischen überlebt. „Früher war ja die ganze Nachbarschaft bei mir.“ Und unter den Fußballfans, die heute kommen, sind solche, deren Eltern und Großeltern er schon bewirtet habe. Ein bisschen Wehmut fällt da nicht schwer.
Knobel- und Skatrunden trifft man immer noch in seiner Kneipe an. Aber selbst unter der Woche trifft man dort auf jede Menge junge Leute, in der „uuurigen Bier- und Weinbrandpinte mit dufter Musik“. Das passt nicht so recht in das Bild von den Studierenden, die gerne in trendige Systemgastronomien gehen. „Ich hab den Generationswechsel geschafft,“ sagt „Nobbi“ dann stolz. Aber auf die Frage, wie er das gemacht habe: „Keine Ahnung, auf einmal waren die alle hier.“
„Mehr Prozente bekommst Du nirgends“
Tatsächlich genießt Norbert Kultstatus. Es mag an seinem Alter liegen, dass man ihn „einfach gern hat“. Oder daran, dass die Ausstattung mit den vielen Bildern, alten Gegenständen und Sprüchen über der Theke („Investieren in Alkohol! Mehr Prozente bekommst Du nirgends!“) für heutige Begriffe so völlig aus der Rolle fällt und beinahe museal anmutet. Vielleicht auch daran, dass es sich hier live dabei zusehen lässt, wie ein Bier in sieben Minuten entsteht. Im Internet schlägt sich das so nieder: Wenn von Norbert die Rede ist, werden viele Herzchen verteilt.
Das hat auch zur Folge, dass er einen gewissen Schutz besitzt. Als er einmal von einem auswärtigen Fußballfan („Ich glaube, es war ein Osnabrücker.“) angepöbelt wird, hat er ganz schnell viele Leute auf seiner Seite, die sich um ihn kümmern und den Angreifer vertreiben. Angst kennt er daher überhaupt nicht.
Übrigens auch dann nicht, wenn es um seine Gesundheit geht. Darum machen sich bei dem passionierten Raucher eher andere Leute Sorgen. Anfang 2014 war bei ihm eine Herzoperation nötig, mit anschließender Kur bis März. Das war die bisher längste Zeit, die die ‚Zwiebel‘ geschlossen blieb. Damals verbreiteten sich Gerüchte über seinen Abschied. Weit gefehlt: Er öffnete wieder. Doch dann brach er sich eine Rippe und musste ins Klösterchen. Aber Stehaufmännchen Norbert brauchte die ‚Zwiebel‘, wie die ‚Zwiebel‘ ihn. Bals war alles wieder in alter Ordnung. Bis zum Oktober desselben Jahres. Da musste er wegen eines Tumors zahlreiche Bestrahlungen über sich ergehen lassen. Mit dem Erfolg: Es geht ihm wieder gut. Er hat keine Beschwerden mehr.
Seine vertrauten Gäste und viele, die ihn kennen, fragen sich, ob er eines Tages aus der ‚Zwiebel‘ heraus getragen werden müsste. Bei der Frage lacht er, weil er sie so oft gehört hat. Und die Antwort lautet: Nein. „Wenn es mir mal dreckig geht und ich hier reinkomme, geht es mir nach einer halben Stunde wieder gut.“ Denn, so sagt Norbert Budewig: „Die beste Therapie ist die ‚Zwiebel‚.“
Erschienen in der neuen Viertel Nr. 31, die in der Bürgerwache und überall im Stadtteil ausliegt.
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