
Weit weg – ohne Eltern
Die Wiederaufnahme des Stücks „Ich kam allein – Kindertransporte“ war notwendig im AlarmTheater. Denn aktuell sind viele minderjährige Flüchtlinge, die ohne Eltern gekommen sind, verschwunden. Zirka 60.000 sind bis Januar 2016 in Deutschland angekommen, aber europaweit werden bereits etwa 10.000 von ihnen wieder vermisst (in Deutschland laut Bundeskriminalamt 4.718).
Der Grund: Ganz selbstverständlich wollen junge Menschen in die Nähe von Verwandten. Wenn ihnen aber legale Wege verwehrt bleiben, drohen sie, Opfer von Missbrauch und Ausbeutung zu werden. Der natürliche Drang hin zu Menschen, die man kennt und liebt, wurde im Stück „Ich kam allein“ überdeutlich – spätestens an dem Punkt, als ein junges Mädchen auf der Bühnenmitte stand und mit schmerzverzerrtem, hochroten Gesicht nach „Mama!“ schrie, so laut, dass es wahrscheinlich noch außerhalb des Theatergebäudes zu hören war und dem Publikum das Blut gefrieren ließ.
Das Ensemble näherte sich dem Thema mit einem intelligenten Kniff. „Ich kam allein“ erzählt von einer groß angelegten Rettungsaktion, mit der insbesondere Großbritannien in den Jahren 1938/39 zehntausend jüdische Kinder und Jugendliche vor nationalsozialistischer Verfolgung bewahrte. Die damaligen Schicksale – von denen Maria Kublitz-Kramer auch Bielefelder Lebensereignisse für die Produktion herausrecherchiert hatte – wurden mit den heutigen verknüpft: Geflohene, muslimische Jugendliche spielten zusammen mit ihren deutschen Mitakteuren jüdische Kinder. Schnell wird deutlich, dass gerade diejenigen, die unbegleitet reisen, die verletzlichsten und schutzbedürftigsten sind. „Ich habe gelernt, immer wenn ich eine Fahne sehe, zu salutieren und „Heil Hitler“ zu rufen“, heißt es da, während ganz unernst zu Spielen und Hüpfseilen übergegangen wird.
„Warum weinen denn hier so viele?“
Es wird zum Wechselbad der Gefühle. „Warum weinen denn hier so viele?“ fragt sich eine Jugendliche vor der Zugabfahrt. „Mama hat doch gesagt, dass wir uns ganz bald wiedersehen.“ Und verwundert: „Hey, was soll denn die Nummer um meinen Hals?“ Auf der Zugfahrt herrscht weitestgehend Angst. „Hoffentlich wecken die SS-Männer nicht meine kleine Schwester. Hoffentlich sind sie selbst Väter“, berichtet einer der 23 jungen Darsteller. Die Reise führt zum Klang von „Muss sie denn zum Städtele hinaus“ von Hoek van Holland nach Liverpool. Und im Lager angekommen müssen die Jugendlichen feststellen, dass das Wasser zum Zähneputzen gefroren ist. Nur sonntags haben sie im Speisesaal zwei Stunden gemeinsame Zeit, dann „machen sich alle so schön sie nur können“. Man spielt, es wird getanzt: „Du, du liegst mir am Herzen“.
Aber sie empfinden es erniedrigend, wenn mögliche Pflegeeltern vorbei kommen und sich ein Kind aussuchen. Es sei „wie im Zoo“. „Ihr Blick hat so etwas Entschuldigendes“ und „Jesus, auch wenn ich nicht an dich glaube, bitte sorg dafür, dass sie mich mögen.“ An dieser Stelle trat die Gefahr der eigenen, geringeren Wertschätzung aufgrund des Marktcharakters jener Auswahl zutage. Ein älterer Junge sprach über die Bevorzugung kleinerer, blonder Mädchen: „Aber ich mach mir nichts vor, ich bin ein Auslaufmodell“.
Einen geringen Halt bietet die Post aus der Heimat. Doch die kommt von den jüdischen Eltern immer seltener. „Das Gesicht meiner Mutter ist unerreichbar geworden“, sagt ein Mädchen, aus Ilse Aichingers „Die größere Hoffnung“ zitierend. „Ich falle durch die Arme aller meiner Puppen und aller meiner Teddybären“.
Ein Recht auf Familie
Auch heute sind solche herzerweichenden Schicksale an der Tagesordnung und das AlarmTheater trägt dazu bei, dieses Problem bewusst zu machen. Der Bundesverband unbegleitet minderjährige Flüchtlinge weist darauf hin: „Eine staatlich organisierte Verteilung an den Zielort scheitert häufig, da in Deutschland ein eindeutig formulierter Rechtsanspruch sowie ein geregeltes Verfahren zur Verteilung von unbegleiteten Minderjährigen zu Angehörigen und anderen Bezugspersonen fehlt. Als Folge machen sich die Jugendlichen auch innerhalb Deutschlands selbständig auf den Weg. Besonders aus Kommunen in denen Jugendliche nicht angemessen versorgt werden und ohne zügigen Zugang zur Schule nur in Notfallmaßnahmen „geparkt“ werden, häufen sich die Meldungen zu solchen „Abgängen“.“ Und der Verband betont, dass die Kinder nach „deutschem und europäischem Recht sowie der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ein Recht auf Familie – und auf Selbstbestimmung“ haben.
Das AlarmTheater hat mit seinen Mitteln das Möglichste getan. Nun sollte die Politik etwas tun. Langsam mal.
Hinweis: Alle weiteren Vorstellungen von „Ich kam allein – Kindertransporte“ sind bereits ausverkauft.
(Fotos: Cornelia Lembke)