Von Stempeln und Tischmaßen

Von Stempeln und Tischmaßen

Der Flohmarkt auf dem Siegfriedplatz ist beliebt. So nett tauschen und trödeln wie dort lässt es sich aber nur dank strenger Regeln. Ein Eintauchen in das Regularium.

An jedem letzten Samstag im Monat – zumindest von März bis Oktober – herrscht an den Nachmittagen der Ausnahmezustand auf dem Siegfriedplatz. Selbst wer sich den Termin nicht gemerkt hat, erkennt schon am frühen Morgen anhand der umgedrehten Tapeziertische: Aha, heute ist wieder Flohmarkt.

Es ist einer der nettesten und beliebtesten Trödelmärkte Bielefelds. Denn dabei handelt es sich ja nicht nur um einen reinen Handel von Gebrauchtem: Die Leute kommen über dem Tapeziertisch ins Gespräch. Man kennt sich, schließlich wohnen alle nah beieinander. Vor der Bürgerwache werden Kaffee und Kuchen genossen und dabei über die erstandenen Schnäppchen gefachsimpelt. „Das ist in der Tat eine gute Platte“. Oder: „Das Teil hier könnte meiner Nichte gut gefallen“, ist da zu hören. Und an wärmeren Tagen kann es dabei schon einmal passieren, dass die Besucher beim Stöbern kaum noch ein Bein auf den Boden bekommen.

Aber: Damit das alles so nett ist, wie es ist, dazu gehört ein in über 20 Jahren aus Erfahrungen gewachsenes kleines Regelwerk. Zwei Stempel auf der Bescheinigung, maximal drei Meter Länge für den Stand und überhaupt: „Keine Ware auf dem Platz vor halb drei!“ Manch einer wundert sich über die vielen Regeln und zickt schon mal. Da ist der Job des Kontrolleurs unter den ehrenamtlichen Helfern nicht gerade der begehrteste.

Freuen über das Losglück

Es folgt daher ein kleiner Blick hinter die Kulissen und ins Regularium: Es beginnt mit einem Problem. Das tut sich auf, wenn man den Tausch- und Trödelmarkt ausschließlich für Nachbarn zugänglich macht. Denn dafür ist er gedacht, als Teil der Stadtteilarbeit. Nur wer zwischen Melanchthonstraße und Ostwestfalendamm, zwischen Jöllenbecker Straße und Wertherstraße wohnt, bekommt einen Stand. Die Kontrolle funktioniert über die Adresse: Jeweils am Monatsersten können die Nachbarn einen an sich selbst adressierten und frankierten Briefumschlag in den Schlitz der Bürgerwache werfen. Hausmeister Peter Reetz hat dann alle Hände voll zu tun: „Erst einmal gucke ich nach, ob die Leute tatsächlich hier wohnen. Wenn das erledigt ist, lose ich aus.“ Für den September-Flohmarkt gingen fast 500 Bewerbungen ein – für gerade einmal 180 Standplätze. Am Abend füttert Reetz mit den Umschlägen den Briefkasten an der Bürgerwache. Am nächsten Tag dürfte der Postler regelmäßig über die plötzliche Flut erstaunt sein. Und noch einen Tag später gibt es 180 glückliche Empfänger. Einige sprechen davon, einen Stand „gewonnen“ zu haben.

Dass die Standplätze begehrt sind, hatte in der Vergangenheit einige Auswüchse zur Folge: So wurden die mit der Post versandten Erlaubnisscheine unerlaubterweise bereits mit Kopierern vervielfältigt und am Markttag vorgelegt. Seitdem versieht Reetz diese Scheine vorsichtshalber mit einem Stempel der Bürgerwache. Und nach dem Bezahlen der Standgebühr (15 Euro ohne, 5 Euro mit selbstgebackenem Kuchen) kommt ein zweiter Stempel hinzu. Wer das alles nicht vorweisen kann, muss den Platz mit seinem Stand räumen. Da sind die Kontrolleure rigoros.

So weit die Vorarbeit. Doch vielleicht noch ein Einschub zum Sortiment, das den Trödelmarkt so einzigartig macht. Allen Besuchern dürfte gleich auffallen: Das Angebot sieht im Vergleich zu vielen anderen Flohmärkten einfach anders aus. Auf dem Siggi fehlt es an den üblichen Verdächtigen wie Handy-Schalen-Verkäufern oder billigen Textil-Stangenwaren. Denn wie lebende Tiere, Gewalt verherrlichende Medien und Gegenstände mit unmittelbarem Bezug zu NS-Gedankengut sind alle gewerbsmäßigen Angebote verboten. Das viele bunte Zeug auf den Wühltischen stammt also tatsächlich aus den Kellern und von den Dachböden der Nachbarschaft.
Und all das sucht neue Besitzer.

Und nun der Tag des Trödelmarkts selbst und zu Rüdiger Cordes. Wer den ehrenamtlichen Mitarbeiter privat kennt, weiß, dass er ein _MG_7194umgänglicher und netter Mensch ist. Aber am letzten Samstag des Monats scheint er wie ausgewechselt, denn dann sorgt er für Ordnung auf dem Platz, seit vielen Jahren schon. Cordes weiß, warum die Leute schon früh morgens ihre Tische umgedreht auf den Platz legen, obwohl es doch erst um 15 Uhr los geht. „Vor allem die äußeren Plätze sind begehrt. Dann haben sie es nicht so weit, um ihre Sachen vom Auto dorthin zu tragen“. Dann achtet er darauf, dass auch ausreichend Platz zwischen den Reihen ist. Die Maßgabe, nur einen Tapeziertisch mit maximal drei Metern Länge zu verwenden, ergibt hier Sinn. Wer einmal mit eigenen Augen gesehen hat, wie viele Besucher durch die Reihen strömen, kann sich vorstellen, was passiert, wenn es einmal zu eng wird. Daher wirkt es manchmal etwas grob, wenn Cordes zur Überraschung der Standinhaber plötzlich an den Tischen herumzerrt und diese in die korrekte Position rückt.

Richtig rüde wird Cordes aber, wenn Trödler ihre gebrauchten Klamotten früher heranschleppen, als erlaubt. Dann setzt er seine lautstarken Qualitäten ein. „Keine Ware auf dem Platz vor halb drei!“ ist oft über den ganzen Platz zu hören. Die Angesprochenen erstarren mit ihrem Karton auf dem Arm oder sind zumindest verdutzt. Notfalls schleppt der ‚Platzwart‘ auch schon mal abgestellte Ware vom Siggi.

Ehrenamtlichen droht Haftung

Für dieses Vorgehen gibt es zwei Gründe: Erstens gilt die Genehmigung des Ordnungsamtes erst ab 15 Uhr. Für einen Verstoß, also einen früheren Start hätten einmal fast alle ehrenamtlichen Helfer in summa (!) haften müssen. Zweitens gilt natürlich die Chancengleichheit: Niemand soll sich vorschnell mit seinem Angebot vor die anderen drängeln können.

Cordes bändigt den Ansturm bis zum Start und macht sich dabei wie er selbst sagt „wieder einmal unbeliebt“. Wenn alles steht, macht sich Kontrolleur Jörg ‚Bödi‘ Bödeker auf den Weg, checkt an den Ständen die Erlaubnisscheine mit den zwei Stempeln, guckt, ob alle tatsächlich nur so viel Platz nutzen, wie ihnen gestattet ist. Letzteres ist ebenfalls eine Frage der Fairness gegenüber den anderen Verkäufern und so muss Bödi als Erstes einen zu großen Pavillon abbauen lassen. Denn der nimmt Platz für gleich sechs Stände weg, die Inhaber darunter besitzen aber lediglich drei der gestempelten Scheinchen. Also abbauen; missmutig natürlich und fluchend. Doch Egoismus ist am letzten Monatssamstag fehl auf dem Siegfriedplatz.

Nichts Böswilliges unterstellen

„Kann ich bitte einmal Ihre Karte sehen?“, bittet Bödi und klappert so alle 180 Standplätze ab. Bald kann er sich selbst nicht mehr nach den gestempelten Erlaubnissen fragen hören. Interessant sind dabei die häufigen Entgegnungen, die ein Vorzeigen hinauszögern: „Oh Moment, die Karte hat meine Tochter“. „Die hab ich zu Hause, es dauert nur zehn Minuten, die zu holen“. Oder „Ach, da vorne soll ich bezahlen? Ich dachte, ihr kommt zum Kassieren direkt hier hin“. Meist handelt es sich um ein echtes Versehen. Das weiß auch der Kontrolleur. „Man will ihnen ja nichts Böswilliges unterstellen“, sagt Bödi. Aber einige von denen versuchten wirklich, sich um die Gebühr herumzudrücken. Oder sich einen Vorteil zu verschaffen.

Sogar ein alter Bekannter versucht es mit zwei Tischen hintereinander, um ein größeres Angebot auftischen zu können. „Das hat doch sonst auch immer geklappt“, behauptet er. Aber so geht es nicht. Bödi bleibt hart und muss sich einiges anhören: „Das will ich mal sehen, wie du hier den großen Vollstrecker machst“. Aber, aber: Da hätte auch die beste Freundschaft nichts genutzt. Ein Tisch muss weg. „Als Kontrolleur macht man sich hier richtig unbeliebt“, merkt auch Bödi.

Als Belohnung nach zwei Stunden Kontrolle bleibt immerhin noch ein Stück Kuchen vor der Bürgerwache. Und die Hoffnung, dass der Platz am Ende von den Leuten nicht mit so viel Müll hinterlassen wird. Denn daraufhin würde das Ordnungsamt wieder einmal die Ehrenamtlichen zur Verantwortung ziehen.

Erschienen in der „Viertel“ – Ausgabe Nr. 23

Your Ad HereYour Ad HereEdeka Niehoff

Sponsoren